BY LENA KÖHLER
Achtung, Achtung: Oberflächler, und solche, die es noch werden wollen, könnten sich in diesem Text “nicht abgeholt” fühlen.
Grenzüberschreitung: Exterozeption. Aus der Stadt auf’s Land
So. Da sitze ich nun. Im schaukelnden Zug von Cheb nach Nürnberg und werde über die
deutsch-tschechische Grenze kutschiert. WLAN gibt es jetzt keines mehr. Ich bin in einem
Zug der Deutschen Bahn. Nicht der einzige Unterschied. Der Zug klingt anders. Anders
klingt auch die Stimme der automatischen Durchsage. Jetzt robotert ein Mann durch die
Lautsprecher. Davor war es eine Frau, angekündigt mit einem lieblichen Sample. Einer sehr
abgespeckten Version von Smetanas „Má vlast“. Ich stelle mir den deutschen Durchsager
als eine Art Ken vor. Vielleicht nicht ganz so gut aussehend. Allerdings nicht minder
gestriegelt. Mit einer Plastikfrisur und einem Plastikkörper. Ganz sicher ohne Genitalien. Die
Bewegungen maschinell. Zackig, aber zielführend. Ausführend. Befehlsausführend.
Bemerkenswert an dem WLAN-freien Zugerlebnis ist, dass nun gar nicht mehr so viele
Befehle ausgeführt werden können. Das WLAN hat uns verlassen. Gott segne das WLAN.
Nicht in Bayern. Nur im atheistischen Tschechien. Der Laptop wird zugeklappt, der
Touchscreen des Handys angetippt. E-Mails lassen sich Dank Flatrate und Roaming auch so
checken. Und wenn es keine E-Mails zu Checken gibt, dann eben Instagram, TikTok, für
Ü30-jährige Facebook…
Der Grenzübergang bringt durchaus Veränderungen mit sich. Vielleicht einfach mal die
Hände in den Schoß legen, die Schultern kreisen lassen, Yoga-Atemübungen starten, auf
eine zweistündige Meditation vorbereiten. Auf jeden Fall irgendetwas machen.
“Aus-dem-Fenster-starren” gehört nicht zu „irgend etwas machen“.
“Gedanken-schweifen-lassen”, der gefürchtete Prokrastinations-Dämon, gehört nicht dazu.
“Im-eigenen-Gehirn-herumkramen” – auf keinen Fall. Wer weiß, was man da so alles
entdeckt. Womöglich noch so eine unverschämte Unsicherheit. Dann doch lieber die
mobilen Daten aufbrauchen und der Person, der man im realen Leben nicht „hallo“ sagt,
beim gestrigen Spaziergang/Joggen/Bar-Besuch/fancy Dinner über die Schulter schauen.
Und sich aufregen. Missgönnen. Schlecht fühlen. Swipe schon weiter. Vergifte nicht deinen
Vibe. Wir sind alle healthy. Alles ist gut. Together we will make it. Think positive. If you don’t
love yourself, nobody can. So just do a lot of Yoga and discover new superfoods. Or even a
new culture. Sei achtsam und kümmere dich… nur um deinen Körper. Der Rest wird einfach
irgendwie wegmeditiert.
Der Grenzübergang bringt durchaus Veränderungen mit sich. Es fahren nun neben der
Bahnstrecke andere Automarken entlang. Davor war es der tschechische Stolz auf vier
Rädern, Škoda. Jetzt die ganze Vielfalt der Autonation Tschermany. Audi, BMW, VW – ein
kunterbunter Mix. Sehr open minded. Bestimmt sind die schon alle auf Elektro umgestellt.
Und ich sitze daneben auf meinem hohen Ross, dem
Mini-No-Wifi-Open-Your-Mind-Stop-Working-Zug und schau den
Eine-Person-Fünf-Plätze-Autos bei der Fortbewegung zu. Die haben bestimmt auch einen
genitalfreien Ken, der ihnen die Richtung diktiert.
Der Grenzübergang bringt durchaus Veränderungen mit sich. Die Sonne scheint. Vorhin war
es dunkel. Neblig. Jetzt, auf der deutschen Seite, werde ich förmlich angestrahlt. Geblendet.
Saftige grüne Felder, blauer mit grau-weißen Wolken durchzogener Himmel. Erhalte dir
die Farben, seines Himmels grau und blau! Surreal anmutende hellorange
Feuer-Herbstbäume im satten Grün der Nadelbäume. Grün, grün, grün sind alle
meine Kleider. Weil mein Schatz ein Jägermeister ist. Jawohl. Hier gibt
es Mischwald. Da schießt’s sich bestimmt gut, Herr Jägermeister. Das Handy zeigt eine
Glättewarnung. Gut, dass ich auf meinem hohen Ross die Grenze überschreite.
Der Grenzübergang bringt die Gedanken-Grenzüberschreitung mit sich. Die Gedanken
sind frei. Sie fliehen vorbei, wie nächtliche Schatten. Der ein oder
andere bleibt dann doch mal länger. Einer ein gebetener, einer ein ungebetener Gast.
Jemand kann sie erraten. Dann lieber ganz schnell aufhören zu denken. Die Städter
gehen jetzt auf’s Land. Da wird entspannt. Pause.
Grenzüberschreitung Numero Due: Introspektion. Vom Land in die Stadt
Nun geht’s in die andere Richtung. Die Sonne scheint nicht mehr. Dafür werde ich durch
eine Puderzuckerlandschaft transportiert. Die Schneedecken sind manchmal dicht,
manchmal dünn, so dass einzelne Grashalme sehr unordentlich, braun und mager aus der
Zuckergussdecke hervor ragen. Was der Jägermeister davon wohl halten würde. Für
manche mag das karg und bedrückend wirken. Ich finde das alles höchst beruhigend. Das
entzückende am Winter ist doch, dass mal ein wenig Ruhe einkehrt und alle, ich, zum
Innehalten und sich besinnen gezwungen werden.
Besinnlichkeit. Oft im Zusammenhang mit verklärtem Christenquatsch zu lesen. Doch, dass
an solchen Worten über Jahrhunderte hinweg festgehalten wird, kommt nicht von ungefähr.
Die Gehirnwäsche funktioniert eben nur im Zusammenhang mit Ansätzen, die eben
tatsächlich Sinn für uns Menschen machen. Damit wird sich doch gleich besser manipuliert.
Sonst kämen wohl eindeutig mehr auf die Idee, dem Missionaren den Vogel zu zeigen.
Whatever. Wir besinnen uns. Besinnen uns ausgiebig, ausführlich, ja ganz ausgelassen.
Sind schon ganz von Sinnen. Vielleicht war das doch ein bisschen zu viel. Der Grat ist
schmal zum Weltschmerz. Darin liegt der Unterschied zu den Religions-Getriebenen. Deren
Grübeln wird vor der Abzweigung zum Weltschmerz von einem künstlich erschaffenen, unter
strengem Konsens vereinbarten Sinn des Lebens abgefangen. Wir dienen Gott.
Genitalfrei-Ken: Fahren Sie jetzt halblinks und nehmen Sie die Ausfahrt Richtung “Artificial
Sense”, bleiben Sie dort FÜR IMMER. Kreationismus at it’s best. Sogar der Sinn wird hier
erschaffen. Die Nicht-Christianer*innen haben die Freiheit, sich selbst den Sinn zu suchen.
Die Gedanken sind frei. Freiheit. Freiheit zum Preis von etwaigem Balanceverlust.
Risiko. No risk no fun. Also innehalten, besinnen, resümieren, lernen, zerdenken, Grenzen
überschreiten. Auch nach der Ausfahrt “Artificial Sens” gibt es weitere Abzweigungen.
Entscheiden Sie sich jetzt: Wollen Sie wirklich auf der Überholspur an der Ausfahrt
“Reflektion ∆ Warnschild: Geröll ∆” vorbei brettern? Lieber in Richtung “Ignorance &
Repression” heizen? Ken lächelt nicht.
Das Grenzgebiet präsentiert mir die ganze Farbpalette meiner Gedanken. Man muss das
alles auch gar nicht so unglaublich schwer nehmen. Die kalte Jahreszeit ist eine Möglichkeit
zu überlegen, was man bisher alles schon geschafft hat und was man in Zukunft noch für
sich selbst erreichen will. Dass wir dabei auf die ein oder andere unschöne Blessur stoßen,
bleibt unumgänglich. Aber dafür gibt es ja Pflaster. Nur sicherstellen, dass die Wunde vor
dem Bepflastern gut versorgt wird und heilen kann, bis der Schutz abgenommen wird.
Innehalten ist schön. Besinnen ist schön. Alle Gedanken sind schön. Unsere Welt ist schön.
Advent, Advent. Macht eine Kerze an und kommt zur Besinnung.